Um heutzutage einen veritablen Skandal vom Zaun zu brechen, braucht es meist nicht viel: Eine unbedachte Äußerung, eine ambivalente Aussage oder ambivalentes Verhalten, welche(s) sich nicht eindeutig anhand des moralischen Koordinatensystems zuordnen lässt, (oder auch einfach eine gezielte Medien- oder Twitter-Kampagne), all das reicht aus, um den Erregungszustand dauererhitzter Gemüter zum Siedepunkt steigen zu lassen.

von Christian Klosz

Im Minenfeld politisch korrekter Ge- und Verbote geht schrittweise auch das Wissen darüber verloren, dass die Provokation ein legtimes und kraftvolles Mittel zur Aufklärung herrschender Missstände ist, umso mehr in der Kunst: Viele der heute als Klassiker und Meisterwerke geltenden Kunstprodukte waren zu ihrer Zeit ein Skandal, insbesondere in der Filmwelt (man denke etwa an „Taxi Driver“). Denn gute Kunst, spannende, Kunst, fordernde Kunst, anspruchsvolle Kunst lebt oft und gerade von der ihr inhärenten Ambivalenz, der Unklarheit, vom Mut zur Exposition gegenüber den abseitigen, dunklen Sphären menschlicher Existenz: Kein einziger Hitchcock-Film wäre anders möglich gewesen.

Der Film „DAU. Natasha“, um den es hier eigentlich gehen soll, ist in seiner Gesamtheit ein höchst ambivalentes Unterfangen: Der Blick auf die Entstehungsgeschichte offenbart ein gigantisches, megalomanisches Kunstprojekt, das seit fast 15 Jahren läuft. In einer in der Filmgeschichte einmaligen Versuchsanordnung ließ der russische Regisseur Ilya Khrzhanovskiy eine fiktive Parallelwelt bauen, die einer abgeschlossenen militärischen Sowjet-Enklave zu Zeiten der UdSSR nachempfunden ist. Über 700 Stunden Filmmaterial entstand in dieser halb utopischen und halb dystopischen Halbwelt, wo das abgeschottete Leben der (großteils) Laien-Schauspieler mit der Kamera eingefangen wurde. Aus diesem reichen Fundus werden bei der Berlinale 2020 der Spielfilm „DAU. Natasha“ im Wettbewerb und die Serie „DAU. Degeneratsia“ in der Special-Schiene gezeigt.

Diverse Medienberichte konzentrierten sich im Vorfeld vor Allem auf die dubiose Entstehungsgeschichte und einige anonym getätigte Aussagen über problematische Arbeitsbedingungen und übergriffige Situationen beim Dreh – natürlich, ohne dass jemand die Filme gesehen hätte. All jenen, die meinten, „DAU. Natasha“ vorab und sicherheitshalber verreißen und verurteilen zu müssen, sei die Pressekonferenz des Film-Teams dringend ans Herz gelegt (Pressekonferenz zu „DAU. Natasha“-Video): Dort meinten die beiden Protagonistinnen, bestens gelaunt übrigens, natürlich hätten sie gewusst, worauf sie sich einlassen, und wenn jemand das Gesehene 1:1 glaubt, dann liege das wohl am großartigen Regisseur und dem Kameramann. Die Hauptdarstellerin Natalia Berezhnaya antwortete auf die Frage nach möglichen unangenehmen und übergriffigen Situationen oder Druck beim Dreh wörtlich: „Wir waren Herrinnen unserer Sinne, wir waren uns dessen bewusst, was wir tun, und wir haben alle diese Schritte selbstständig unternommen.“ Der wahre Skandal einer an sich sehr gesittet ablaufenden Pressekonferenz war die entbehrliche und provokante Frage einer deutschen Kollegin an die Co-Regisseurin von „DAU. Natasha“, Jekaterina Oertel, was sie, die gelernete Maskenbildnerin, die ja nur aus dem Make-Up komme, eigentlich vor diesem Film gemacht habe, und ob sie ihre Arbeit auch irgendwo nachvollziehen könne: Überheblicher Medienmenschen-Dünkel par excellence.

Nun soll es hier aber endlich um den Film selbst gehen, der tatsächlich ganz bemerkenswert geworden ist: Über 2 Stunden beobachten wir die Kantinenmitarbeiterin Natasha bei ihrem Leben in der Militär-Enklave, ihre Streitereien mit ihrer Untergebenen Olya, die mehrfach in handgreiflichen Auseinandersetzungen der beiden Frauen ausarten; dabei, wie sie mit dem französischen Wissenschaftler Luc eine Affäre beginnt, wie sie wiederholt zu viel trinkt – und schließlich von einem Sowjet-Agenten gefoltert wird, der von ihrer Affäre mit dem „Feind“ Wind bekommen hatte – Erniedrigung durch erzwungenes Einführen einer Flasche in die Vagina inklusive.

Was das Level der Gewalt und expliziter Darstellungen betrifft, geht das in „DAU. Natasha“ Gezeigte nicht weiter als etwa Lars von Trier. Hier ist also kein Skandal zu finden. Die Szenen wirken allesamt sehr realistisch und echt, man hat jedoch immer das Gefühl, dass es sich hier um ein Schau-Spiel handelt und nie den Eindruck, dass das Ganze komplett ins Dokumentarisch-Voyeuristische kippen würde. Wie genau das alles vonstatten gegangen ist, wie, wann und wo sich Realität und Fiktion überlagern, darüber gaben auch die Protagonist/innen und Macher von „DAU. Natasha“ keine genaue Auskunft und hüllen sich in Schweigen, was das Geheimnis um das Projekt noch größer macht, und damit den Film umso spannender.

Es gibt hier keine erkennbare Dramaturgie, wenngleich die dargestellten Themen klar werden: Leben in einer geschlossenen Gesellschaft (im Kommunismus) mit allen Vor- und, vor Allem, Nachteilen, Hierarchien und Subordination, Macht und Machtmissbrauch, Demütigung, Dekadenz – aber auch Lebenslust, Sex und Liebe. „DAU. Natasha“ ist ein beeindruckendes filmisches Dokument, das erste Rückschlüsse auf das große DAU-Projekt zulässt, aber auch als Einzelfilm funktioniert, und definitiv zu den mutigsten, interessantesten und kompromisslosesten Arbeiten des Wettbewerbsprogramms der Berlinale 2020 zählt.

Rating

86/100

Bilder: © Phenomen Film